Das gestohlene Kruzifix
„Der Gewissenswurm“

 

Mit schlotternden Schritten trödelte da ä Bäuerle, weit hinten von der Rhön kommend, an der Häuserfront einer Kissinger Straße entlang. ..und spähte zögernd zu Haus- und Namensschildern empor. Sein Gang verriet Unsicherheit und auch Müdigkeit von der langen Wegstrecke. Mochte der Rhöner auf seinem Weg in die Stadt hin und wieder kräftig von seinem mitgeführten „Rhöngeist“ geschluckt haben, so lag doch der Grund für sein ängstliches Suchen nach einem bestimmten Haus anderswo verborgen. Nun blieb er vor einem Hofeingang stehen, las mehrmals die Hausbeschriftung, sammelte sich räuspernd, als ginge er dem bohrenden Schmerz einer Zahnprozedur oder einem Richterspruch entgegen.

Langsam, mit hemmender Bewegung, geisterte er über den Hof, trat in das Haus ein und tastete sich am Treppengeländer die hölzernen Stufen hinauf. Das gesuchte Türschild entdeckt, verweilte er noch auf der Stelle. Ein röchelnder Ton entstieg seinem schweren Atem und sein Herz schlug ihm bis zum Halse. Zwei-, dreimal versuchte er seinen Daumen auf den Klingelknopf zu drücken, doch eine unsichtbare Gewalt hielt ihn davon zurück. War es Scheu oder war es das quälende Gewissen? Endlich faßte er sich ein Herz - ein knappes Klingeling war zu hören. Im Türrahmen erschien eine hochgewachsene Handwerkergestalt. „Grüß Gott“, sagte das Bäuerle mit fast erstickter Stimme – „bin i da richtig bei dem Hüttewart Franz Vay?“ - „Das bin ich“, bestätigte der Handwerksmann mit volltönigem Baß.

„Was führt euch hierher und wo drücke euch die Stiefel?“ Franz Vay hieß den sonderbaren Ankömmling in sein Wohnzimmer einzutreten. Die angebotene Sitzgelegenheit in einem der alten Plüschsessel wagte der fremde Mann nicht anzunehmen. Vay, der genug Menschenkenntnis besaß, ahnte sogleich, daß er einen Sonderling von den „heiligen Ländern“ vor sich hatte - und daß mit diesem Mann etwas nicht stimmen mußte. „Herr ...Herr Hüt-t-te-wart“, stotterte der seltsame Gast, „i will mei Gewisse erleichter“. Kaum vernehmbar lächelte der Angesprochene, wenn gleich ihm sofort ein Licht dämmerte. Tiefes Schweigen im Raum... bis sich der grauköpfige Rhöner nach einer Weile aufraffte, seine Gewissensnot weiter zu lüften: „Nach'm Krieg worn drowe in euer Hütte auf dem große Berg Tür und Angloffegschtanne“.

Der Beichtende machte eine Pause, holte Atem und fuhr mit zitternder Stimme fort: „Da bin i halt a emol neigange, ho alles besichtigt un ho mich richtig auf dere wollne Decke ausgeschloffe. Mei Knoche worn so müed, weil i noch en Haufe Zucker vom Verpflegungslager Wildflegge mitgschleppt ho. Ja, wie i nacher die schöne Sache in dere Hütte ogeguggt ho, da hot mich aufemol der Teufl nei sei Fäng genumme... un i ho halt a öbbes mitgeh laß“. Franz Vay schwieg und hörte sich das Geständnis mit der Ruhe eines Richters an. Aus den ansonsten listigen Augen des Bäuerleins schaute ehrliche Reue hervor. Seine buschigen Augenbrauen zuckten auf und nieder und sein Gehabe war auf einmal nicht mehr so stockend. Während der Reumütige seinen speckigen Rucksack aufschnürte und aus einem Leinentuch das gestohlene Gut hervorholte, beichtete er mit gesenktem Kopf weiter: „Herr „Franz Hüttewart, na, Herr Hüttewart Franz Vay, da geb i des Kruzifix wiedder zurück, daß mei arme Seel wiedder ä Rueh kriegt. Es wor on dr Waand im Herrgottswinkl gewase!"

Der Hüttewart machte große Augen, nickte vor sich hin und ein beglücktes Lächeln glitt über sein Gesicht. Das Kruzifix behutsam in den Händen haltend, erkannte er sogleich das so lange vermißte holzgeschnitzte Kleinod der Feuerberger Hütte. Auch das gefurchte Gesicht des Geständigen lichtete sich auf - wie wenn die Sonne durch graue Nebelwände sickert. Seinem Schuldbekenntnis fügte er noch stammelnd hinzu: „Unner hochwürdiger Herr Pfarrer hot mir scho zweemol die Absolution bei der Osterbeicht verweigert. Erst wenn ich des gschtohlene Kruzifix dem Rhönklub zurückbring, dann kann ich mit Vergebung meiner Sünd rechn!“ – „Buße“, erwiderte Franz Vay, „muß sei, so will es die Moral. Ja, sunst wär der Durchennanner auf der Welt noch viel größer. Eens red ich euch scharf nei's Gewisse: Les wieder emol mit allem Ernst im Katechismus die Gebote nach... un wenn der Teufl wieder emol versücht, in ä schwache Stund bei dir ozuklopfe, dann denk dro, was der Pfarrer zu dir im Beichtstuhl gsacht hoat. Merk dir's!“

Das Bäuerle knaukte nachdenklich. Mit einem „Grüß Gott“ zog er schweigend von dannen.

 

Quelle:
„Mein altes Städtle und die Rhön
Erinnerungen, Erlebnisse und Betrachtungen von Fritz Kreiner

 

 

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